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«Wenn im Turm die Glocken läuten

«Wenn im Turm die Glocken läuten
kann das vielerlei bedeuten:
Erstens; dass ein Festtag ist.
Dann: dass du geboren bist.
Drittens: dass dich jemand liebt.
Viertens: dass es dich nicht mehr gibt
Kurz und gut: Das Glockenläuten
Hat nur wenig zu bedeuten.»

Erich Kästner

«Ei dat ils tucs»…. heisst es in Sagogn und vermutlich auch in anderen Dörfern der Foppa, wenn mitten im Tag eine bestimmte Glocke, die mehrmals unterbrochen wird, läutet. Dann weiss jedeR: Jemand aus unserer Mitte ist für immer von uns gegangen. – So oder ähnlich wird der Tod eines Mitmenschen in allen Gemeinden der Surselva angekündigt. Und zum Begräbnis muss nach kantonaler Verordnung die politische Gemeinde für «ein würdiges Totengeläute» besorgt sein, und zwar für alle EinwohnerInnen, egal welcher Konfession, Religion oder Weltanschauung sie angehören. Damit wird das deutlich gemacht, was immer wieder als Inschrift auf Glocken zu lesen ist: „mortuos plango“ – ich beklage die Toten.

Die Glocken, eng in unserer abendländischen Kultur verwurzelt, haben somit – neben dem kultischen Zweck, nämlich das Rufen zum Gottesdienst oder zum Gebet – eine gesellschaftliche Bedeutung. Sie machen etwas bekannt (die Totenglocke), sie kündigen ein Ereignis an oder umrahmen es (wie den Beginn eines neuen Kalenderjahres oder den Bundesfeiertag), sie machen auf Gefahren aufmerksam (wie Sturm oder, als es noch keine Sirenen gab, auf Krieg und Mobilmachung).

 

Ein Musikinstrument, das das Leben anstimmt

Die Glocke ist eigentlich ein Musikinstrument. Sie ist auf eine bestimmte Note der Tonleiter intoniert: auf ein C oder A oder G. Es gibt helle, hohe und tiefe Töne, je nach Grösse und Guss der Glocke. Je besser die einzelnen Glocken im Turm aufeinander eingestimmt sind, desto harmonischer klingt das Gesamtgeläute.

Wenn ich die Glocken läuten höre, kommt mir oft der Gedanke: So ist das Leben. Es gibt da Höhen und Tiefen, Helles und Dunkles, Kleines und Grosses. Und jedes hat da seinen Platz, seine Zeit, seinen Ort. Und alles zusammen bildet mein Leben. Je ausgewogener die einzelnen Momente sind, desto harmonischer ist mein Dasein. Und als Christ erahne ich, je einheitlicher und harmonischer sie klingen, etwas von der Wirklichkeit, die ich jenseits der Todesschwelle glaube: Dass da Jemand ist, der mein, unser Leben, zur letzten Harmonie führt und das Ganze annimmt und vollendet.

So schön die Reime von Erich Kästner klingen, der Schlussfolgerung kann ich nicht zustimmen: Glocken haben ihre Bedeutung, auch in unserer Zeit und Gesellschaft. Sie geben dem Alltag in unseren Dörfern und Städten Klang und Farbe und können uns zum Nachdenken und zur Besinnung lenken, sofern wir uns von ihrer Stimme ansprechen lassen.

Pfarrer Alfred Cavelti, 14.11.2022

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